Branche | Markt 2016-12-15T00:00:00Z Interview: Brandschutz – quo vadis?

Derzeit verändert sich der vorbeugende Brandschutz rasant. Die europäische Harmonisierung ändert massiv die nationalen Anforderungen an Brandschutzprodukte. Bei Großprojekten steht der Brandschutz häufig am Pranger. FeuerTRUTZ sprach mit zwei Protagonisten des deutschen Brandschutzes über die Vergangenheit und die Zukunft.

Dezember 2016. Der Brandschutz ist bei vielen Bauprojekten Gegenstand öffentlicher Kritik geworden: Er sei schuld an Kosten- und Terminüberschreitungen. Was ist da schiefgelaufen?

Klingsch: "Der Bereich Brandschutz ist ein willkommenes Vehikel, da dort kaum jemand wagt, Einsparungen zu fordern. Die Ursachen liegen jedoch bei fehlender abgeschlossener Ausführungsplanung; stattdessen wird konfliktträchtig baubegleitend geplant. Hinzu kommen bei öffentlichen Bauten politische Interventionen. All das erfordert Anpassungen von Planungen, u.U. auch Umbauten und somit Kosten- und Terminüberschreitungen für alle Gewerke. Fehler der am Bau beteiligten Planer und Firmen gibt es natürlich auch, diese sind jedoch seltener ursächlich für öffentliche Kritik."

Wesche: "Es gibt sicherlich sehr unterschiedliche Gründe. Gerade bei öffentlichen Bauten lief sicherlich bereits in der Planungsphase einiges schief. Die Ursachen sind häufig in der Inkompetenz des öffentlichen Bauherrn zu suchen, da häufig aus politischem Grund die Kosten zu gering kalkuliert wurden. In der Ausführung führt dies u.a. zu erheblichen Planungsänderungen, die in das Brandschutzkonzept kaum zu integrieren sind.
Andererseits werden in der letzten Zeit alle nur denkbaren Brandschutzmaßnahmen in den Brandschutzkonzepten gefordert, obwohl sie gemäß der tatsächlichen Risikosituation nicht zwingend erforderlich wären.
Aus meiner Sicht kommt als entscheidendes Kriterium häufig die engstirnige Auslegung von Brandschutznachweisen durch die ‚Prüfenden‘ bzw. die unzureichende Erweiterung der Verwendbarkeits- bzw. Anwendbarkeitsnachweise durch die ‚Ausstellenden‘ hinzu. Es ist daher sehr einfach, alle Probleme im Bau auf den Brandschutz zu schieben, da Abweichungen gerade bei Sonderbauten nicht zu vermeiden sind und die Angst der ‚Entscheider‘ zu unnötigen Nachrüstungen mit entsprechenden Verzögerungen führt.
Wenn man in der Presse liest, dass z.B. beim Kölner Opernhaus 700 Installationsdurchführungen fehlerhaft sind und Umrüstungen zu erheblichen Verzögerungen führen, muss man hinterfragen, ob die Ausführungen der Abschottungen bei der hohen Installationsdichte überhaupt genau den Vorgaben der Nachweise entsprechend ausgeführt werden können. Die Problematik liegt häufig in der Unfähigkeit der Planer und Ausführenden, die Problematik zu erkennen, häufig aber auch in der Angst der Abnehmenden, wenn von den Verwendbarkeitsnachweisen abgewichen wird. Beim Kölner Opernhaus hatte wohl das für den Technischen Ausbau zuständige Unternehmen die Problematik nicht erkannt oder wollte sie nicht erkennen."

Das Interview ist in Ausgabe 6.2016 (November 2016) des FeuerTRUTZ Magazins erschienen.
Hier erhalten Sie weitere Informationen zum FeuerTRUTZ Magazin Ausgabe 6.2016

Sind Planung und Ausführung im Brandschutz zu komplex geworden?

Klingsch: "Komplex war anspruchsvolles Bauen schon immer. Zu komplex mag in Einzelfällen zutreffend sein, kennzeichnet aber zunächst nur eine unzureichende Qualifikation der am Bau Beteiligten. Hochwertige Architektur und komplexe Nutzungskonzepte sind mit simplen Brandschutzkonzepten nicht realisierbar. Hier sind die Brandschutzplaner ebenso gefordert wie die anderen Fachplaner und die ausführenden Gewerke – und auch der Bauherr, der eine solch anspruchsvolle Leistung nicht mit Minimalaufwand erwarten kann."

Wesche: "Einerseits sind sie nicht viel komplexer als in der Vergangenheit, da es schon immer schwierig war, die Koordination der Beteiligten zu organisieren. Früher wurden diese Probleme mit Ingenieurverstand geregelt. Heute verhindern die Angst vor Verantwortung und die Ehrfurcht vor den Formulierungen in Normen und Gesetzen pragmatische Lösungen.
Andererseits muss man zugeben, dass der Umfang des anlagentechnischen Brandschutzes erheblich zugenommen hat und von einigen Konzepterstellern Lösungen mit Gürtel, Hosenträger und Zugband gewählt werden, um ja kein Risiko einzugehen.
Bei Bestandsbauten wird es häufig versäumt, eine detaillierte Bestandsaufnahme zu erarbeiten, sodass bei der Ausführung teurere und verzögernde Überraschungen nicht zu vermeiden sind."

Was tun gegen engstirnige Brandschutzdogmatiker, die den Trend zu schutzzielorientiertem Bauen nicht mitgehen wollen?

Klingsch: "Zunächst ist festzustellen, dass auch die Regelungen der Bauordnung sich an Schutzzielen orientieren, wenn diese dort auch allgemeingültig gefasst sein müssen. Etwas anderes sind auf das einzelne Bauvorhaben bezogene Brandschutzkonzepte. Hier bietet der inzwischen bauaufsichtlich eingeführte Eurocode interessante Möglichkeiten. Individuelle schutzzielorientierte Brandschutzkonzepte werden in der Regel von Behörden dann akzeptiert, wenn diese verantwortungsbewusst formuliert und umfassend – und seriös – nachgewiesen werden."

Wesche: "Man muss auf Entscheidungsträger und Gesetzgeber einwirken, die Probleme besser zu berücksichtigen. Dabei müsste ihnen bewusst gemacht werden, dass die Grundlagen der Normung im Brandschutz grundsätzlich idealisierte Brände mit festgelegten Zeiten sind, die häufig auf den Worst-Case-Bedingungen beruhen und das tatsächliche Risiko nicht darstellen.
Ich weiß, dass das ein Wunschdenken ist, da der Ingenieurverstand nicht mehr gefragt ist und die juristische Auslegung von Normen und bauaufsichtlichen Regelungen besser in die Zeit passt und keine Risikobereitschaft fordert."

2016-12 Interview Brandschutz quo vadis Klingsch
Univ.-Prof. em. Wolfram Klingsch: "Die Verwendung von Bauprodukten wird zunehmend Gegenstand juristischer Debatten statt ingenieurmäßigen Handelns. Das ist im höchsten Maße ärgerlich, bauzeitverlängernd und kostentreibend." (Foto: Klingsch)

Wurde mit gestiegener Sensibilität in Sachen Brandschutz deutlich, wie viele Fragen des Zusammenwirkens von Bauteilen und Technik noch unzureichend geklärt sind?

Klingsch: "Das Zusammenwirken von Bauteilen und Technik beschränkt sich eigentlich auf wenig komplexe Fälle, wie z.B. Türen, Klappen usw. Die eigentlich komplizierten Zusammenhänge resultieren aus der umfangreichen Integration von Gebäudetechnik der unterschiedlichsten Art in die Brandschutzplanung. Diese offeriert einerseits ein enormes Potenzial an Möglichkeiten, andererseits entstehen Risiken infolge komplexer Abhängigkeiten und damit Fehlerquellen."

Wesche: "Aus meiner Sicht sind diese Fragen nicht von entscheidender Bedeutung, vielmehr ist die gestiegene Sensibilität in Bezug auf das tatsächliche Brandrisiko ein Problem. Gerade in den scheinbar so sensiblen Sonderbauten waren in der Vergangenheit kaum Tote und Verletzte zu beklagen; Personenschäden gab es meistens in den Gebäuden normaler Art und Nutzung, die kaum zur Diskussion stehen. Aus meiner Sicht ist auch die Forderung nach nachweiskonformer Ausführung diverser Brandschutzmaßnahmen unter Vernachlässigung pragmatischer Ansätze das Problem."

Mit einer sehr kurzen Frist von nur zwölf Arbeitstagen konnten Brandschutzverbände bis zum 25. Juni zum Entwurf des Brandschutzteils der Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (VV TB) Stellung nehmen. Es gab 65 Einsprüche zum Teil mit massiver Kritik. Bereits am 20. Juli wurde die fast 300 Seiten starke Vorschrift nahezu unverändert in Brüssel notifiziert. Ist Ihnen aus früheren Zeiten eine derartige Missachtung von Fachexperten bekannt?

Klingsch: "Nein, nicht in den 40 Jahren meiner aktiven Tätigkeit im Normungsbereich."

Kennen Sie diese Geschwindigkeit aus früheren Zeiten? Ist es angesichts der Komplexität ratsam oder werden damit nicht Fehler und Auseinandersetzungen auf den Baustellen geradezu provoziert?

Klingsch: "Neue Probleme sind durch unzureichende oder unpräzise Regelungen zu erwarten und diese werden nicht nur den Bauablauf, sondern auch die Planungsprozesse belasten."

Wesche: "Diese Missachtung überrascht mich nicht. Auch in früheren Zeiten wurden die Einwände von Fachexperten – Menschen, die Probleme in der täglichen Baupraxis zu lösen haben – in den Einspruchsverhandlungen weitgehend ignoriert. Eine verlängerte Einspruchsfrist hätte keine gravierenden Auswirkungen, sie wäre lediglich optisch besser zu verkaufen.
Es wäre schön, wenn in Zukunft die Probleme der Praxis bereits in der Entwurfsphase eingebracht werden könnten, dann wären, z.B. bezogen auf die Umsetzung bei den Regelungen für Bauprodukte und Bauarten, pragmatischere Ansätze denkbar, die Fehler, Kosten und Zeitverzögerungen auf den Baustellen verhindern könnten."


Wie stehen Sie zu dem Prozess der europäischen Harmonisierung bei Bauprodukten?

Klingsch: "Grundsätzlich ist dies von Vorteil. Probleme sehe ich jedoch infolge der erkennbar verringerten Sicherheitsstandards und des Verlustes bei der Benennung klarer Leistungsmerkmale von Bauprodukten."

Wesche: "Grundsätzlich könnte man damit gut leben, wenn die Umsetzung in Deutschland pragmatischer angegangen würde. In vielen anderen europäischen Ländern wird der Ingenieurverstand noch genutzt; in Deutschland ist das anscheinend ein auslaufendes Modell.
Einerseits werden europäische Nachweise in vielen Ländern großzügiger gestaltet, d.h., es werden Ausführungsmöglichkeiten integriert mit wesentlich geringerem Prüfaufwand, da man den Nachweiserstellern mehr zutraut als in Deutschland.
Andererseits ist noch nicht geklärt, wie man in Deutschland mit Abweichungen bei europäischen Nachweisen umgehen kann. Ich hoffe, dass man zu Lösungen findet, die eine pragmatische Umsetzung auf den Baustellen ermöglichen und nicht der ‚Weg der Hardliner‘ beschritten wird, keine Abweichungen zuzulassen, da sie im bisherigen Regelwerk nicht ausdrücklich erlaubt sind. Es muss auch bei europäischen Nachweisen die Möglichkeit einer Zustimmung im Einzelfall eingeräumt werden und auch nicht wesentliche Abweichungen müssen möglich sein, andernfalls werden Kostensteigerungen und Verzögerungen der Regelfall werden."

Die richtige Verwendung von Brandschutzprodukten nach Prüfzeugnissen oder Zulassungen war stets kompliziert. Über Defizite in der Kenntnis der Bauregelliste klagt die Branche seit Langem. Welche Situation erwarten Sie nach der Umstellung auf die neue VV TB?

Wesche: "Die Situation wird sich kaum verändern, wenn die Ver- bzw. Anwendbarkeitsnachweise unverändert bleiben und die Umsetzung ohne Ingenieurverstand erfolgt. Das Bauwerk ist keine Maschine, dies in einem Werk hergestellt wird. Ein Gebäude wird von unzähligen Gewerken errichtet, die sich im Brandschutz gegenseitig beeinflussen, sodass pragmatische Ansätze zwingend notwendig werden. Ein erster Schritt wurde bereits mit der MBO 2002 geleistet, indem vor den einzelnen Paragrafen in den Abschnitten 4 bis 6 in Verbindung mit dem Abschnitt 3 Schutzziele formuliert wurden, die Abweichungen von den Nachweisen zulassen. Es muss lediglich plausibel dokumentiert werden, dass die vorgegebenen Schutzziele erreicht werden. Leider wird dies in der Praxis kaum genutzt."

Die Verwendung von Bauprodukten wird zunehmend Gegenstand juristischer Debatten statt ingenieurmäßigen Handelns. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?

Klingsch: "Im höchsten Maße ärgerlich, bauzeitverlängernd und kostentreibend."

Wesche: "Furchtbar, man legt den auch in Deutschland zweifellos vorhandenen Ingenieurverstand in die Hände bzw. in die Köpfe von Juristen."

2016-12 Interview Brandschutz quo vadis Wesche
Prof. em. Dr.-Ing. Jürgen Wesche: "Der Architekt muss ein Gefühl für den Brandschutz entwickeln und er muss sich bewusst sein, dass er die Koordinationspflicht für die verschiedenen Bereiche hat." (Foto: FeuerTRUTZ)

Der Ruf nach einer fundierten Ausbildung für die Ausführung wird dadurch immer größer. Brauchen wir einen Ausbildungsberuf "Brandschutzerrichter"?

Klingsch: "Nein! Das bisherige Konzept gut ausgebildeter Fachplaner und Facharbeiter hat Zukunft – sofern es diesen Personenkreis auch weiterhin gibt, insbesondere auf den Baustellen ist dies gefährdet."

Wesche: "Ich glaube, das macht wenig Sinn. Es wird notwendig, die unmittelbar am Bau Beteiligten besser auszubilden und ihnen die Angst vor dem Brandschutz zu nehmen. Dabei bleibt es auch nicht aus, die vorhandenen Brandschutzprodukte und -systeme maßvoll einzusetzen und die Brandschutzmaßnahmen nicht mit der Gießkanne planlos zu verteilen."

Welche Kompetenzen brauchen Architekten, Fachplaner bzw. Fachbauleiter zukünftig, um für die Ausführung auf der Baustelle die richtigen Produkte auszuwählen?

Klingsch: "Das bisherige Ausbildungskonzept ‚Grundausbildung mit nachfolgender Spezialisierung‘ ist bewährt, es muss lediglich durch konsequente berufsbegleitende Fortbildung auf aktuellem Stand gehalten werden."

Wesche: "Der Architekt muss ein Gefühl für den Brandschutz entwickeln und er muss sich bewusst sein, dass er die Koordinationspflicht für die verschiedenen Bereiche hat. Fachplaner und Fachbauleiter sollten risikoorientiert denken und handeln. Dazu müsste die Ausbildung im Hinblick auf die Bauprodukte und Bauarten, auch bezogen auf die tatsächlichen Risiken, verstärkt werden."

Zu den Gesprächspartnern

Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Wolfram Klingsch: Professor für Baustofftechnologie und Brandschutz an der Bergischen Universität Wuppertal; geschäftsführender Gesellschafter der BPK Brandschutz Planung Klingsch GmbH; staatlich geprüfter Sachverständiger für die Prüfung des Brandschutzes IKBau; öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Baustoffe und Brandschutz IHK; Prüfer em. für den vorbeugenden Brandschutz im Eisenbahnbau EBA

Prof. Dr.-Ing. Jürgen Wesche: Reg.-Dir. a. D.; langjähriger Leiter des Brandschutzzentrums MPA Braunschweig; ehemals Lehrauftrag Brandschutz im Bestand an der TU Braunschweig; ehemals Mitarbeiter und Obmann diverser Normenausschüsse im Brandschutz

Das Interview ist in Ausgabe 6.2016 (November 2016) des FeuerTRUTZ Magazins erschienen.
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zuletzt editiert am 27. April 2021