Viele Normen und technische Regeln gelten automatisch als allgemein anerkannte Regeln der Technik – selbst wenn ihr Nutzen fraglich ist. Für Planende bedeutet dies ein Risiko: Sie sehen sich mitunter mit „fiktiven Schäden“ ohne tatsächlichen Mangel konfrontiert. Eine unabhängige Bewertung technischer Regeln durch Fachleute könnte helfen, Transparenz zu schaffen, Kosten zu senken und rechtliche Unsicherheiten zu reduzieren – besonders im Brandschutz.
Wie im ersten Teil gezeigt, bestehen vonseiten des DIN erhebliche Defizite bezüglich Transparenz und paritätischer Besetzung der Ausschüsse. Darüber hinaus finden sich keine statistisch relevanten Nachweise für steigende Standards/Kosten, sodass sich die Frage stellt, ob das DIN seinem öffentlichen Auftrag gerecht wird, dem Nutzen der Allgemeinheit zu dienen und Sondervorteile Einzelner auszuschließen. Diese Problematik beschränkt sich allerdings nicht ausschließlich auf Normen des DIN e. V., denn auch von zahlreichen weiteren Institutionen werden technische Regeln veröffentlicht. Auch bei ihnen sind Planende und Anwender mit der Frage konfrontiert, ob ihre Beachtung zwingend erforderlich ist. Bis zum heutigen Tage gibt es auch keine Aufzählung, welche technischen Regeln von der Mehrheit repräsentativer Fachleute wirklich anerkannt werden – Zeit für eine exemplarische Umfrage.
Für Brandschutzfachleute stellt sich die Frage, inwieweit sie außerhalb zeitkritischer Bauantragsverfahren einen Beitrag zur Kostenreduzierung und zu mehr Transparenz leisten können – mit Schwerpunkt auf bestehenden technischen Regeln, die häufig ein wirtschaftliches Planen erschweren.
In der Serie „Mythen des Brandschutzes“ betrachten die Autoren im Wechsel unterschiedliche Aspekte, um vorhandene rechtliche Möglichkeiten und Zuständigkeiten richtig auszulegen, zu interpretieren und Verständnis für die jeweils andere Haltung zu wecken.
Fiktiver Schaden ohne Mangel
Dies ist umso wichtiger, da Planer in einer kaum zu lösenden Zwickmühle stecken, zumal sie neben der Erstellung eines dauerhaft genehmigungsfähigen Werks auch zur Wirtschaftlichkeit verpflichtet und gehalten sind, materiellen Schaden vom Bauherrn abzuhalten. Diese Zwickmühle wird immer dann aktiv, wenn
a) Anwendungsbereiche einzelner technischer Regeln offensichtlich keinen Sinn machen oder
b) der Bauherr selbst entschieden hat, von einer technischen Regel abzuweichen.
Dabei geht es um ein erhebliches Einsparpotenzial für den so dringend erforderlichen bezahlbaren Wohnraum. Besonders problematisch ist es, wenn (in Umkehrung der Beweislast) nicht wenige Rechtsprechungen auch weiterhin unterstellen, dass es sich bei einer technischen Regel quasi automatisch um a. a. R. d. T. handeln müsse. Denn aus dieser Prämisse ließe sich konstruieren, dass selbst bei zuvor mit dem Bauherrn abgestimmten Unterschreitungen von Standards zumindest ein „fiktiver Schaden“ durch Nichteinhaltung der technischen Regel entstanden ist – mit nicht unerheblichen Schadensersatzforderungen an den Planer. Angst vor „fiktiven Schäden“ ist sicherlich ein wichtiger Grund, warum Experten (gegen ihren Willen und Sachversand) lieber auf die vermeintlich sichere Seite wechseln und im vorauseilenden Gehorsam alles, was in technischen Regeln steht, einplanen.
Mangelnder Nutzen: Was kann weg?
Immerhin aber besteht die Möglichkeit, mittels Umfragen unter Fachleuten exemplarisch und unabhängig zu überprüfen, ob die in einigen technischen Regeln definierten Standards von der Mehrheit der Fachleute wirklich als richtig und angemessen anerkannt werden.
Mögliche Mehrwerte der Ergebnisse:
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Aufgrund einer Beweislastumkehr müsste nunmehr die Verfasser einer technischen Regel nachweisen, worin die Notwendigkeit und der Nutzen für die Allgemeinheit bestehen.
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Ohne Anerkennung würde es auch für restriktive Gerichte schwieriger, technische Regeln automatisch als a. a. R. d. T zu deklarieren, um aus dieser Prämisse Schäden ohne Mangel herzuleiten.
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Darüber hinaus wäre eine öffentlich zugängliche Liste von angemessenen bzw. nicht angemessenen Regeln eine hilfreiche Grundlage für die Bestrebungen, technische Regeln auf das wirklich Notwendige zu reduzieren.
Umfrage: 10 Regeln – 10 Fragen
Sie möchten sich beteiligen? Die Autoren des Artikels führen eine Umfrage zu den „Anerkannten Regeln der Technik“ durch:
Die Ergebnisse werden von der AG Normen des DIvB sowie in einer der folgenden Magazinausgaben veröffentlicht.
10 Regeln – 10 Fragen
„Die anerkannten Regeln der Technik werden insbesondere durch übertriebene Regelwerke wie DIN-Normen und VDI-Richtlinien konkretisiert. Es besteht eine Vermutung dafür, dass solche kodifizierten Regelwerke die anerkannten Regeln der Technik wiedergeben. Die Vermutung ist jedoch widerlegbar.“ [1]
Diese Einschätzung des saarländischen OLG steht im Einklang mit dem wissenschaftlichen Anspruch der Falsifizierbarkeit (Popper), nach der alle Hypothesen/Vermutungen zumindest widerlegbar sein müssen.
Das sind die Fragen in der Umfrage der Autoren mit Hintergrundinformationen:
1. DIN 14675 „Brandmeldeanlage“
In der DIN 14675-1:2020-01 findet sich in Kapitel 11.5.3 folgende Festlegung: „ Automatische punktförmige Brandmelder […] können bis zu acht Jahre im Einsatz bleiben […]“. Diese pauschale Vorgabe stellt sich in der Praxis als wenig überzeugend und massiv kostenträchtig heraus. Dabei ist insbesondere kritisch zu hinterfragen, warum der genannte Zeitraum unabhängig vom Einsatzort und von den vorliegenden Umgebungsbedingungen festgelegt wurde. Während der Austausch von Brandmeldern in einem Industriebetrieb mit erheblichen Störgrößen vermutlich deutlich früher erfolgen sollte, wäre ein Ersatz der Brandmelder in einem Bürogebäude oder einer Arztpraxis vermutlich auch zu einem deutlich späteren Zeitpunkt vertretbar.
Frage 1: Wird die Notwendigkeit des Austausches eines automatischen punktförmigen Brandmelders nach spätestens acht Jahren gemäß DIN 14675-1 anerkannt?
2. DIN VDE 100-420 „Brandschutzschalter“
Auch wenn der Einbau von „Brandschutzschaltern“ nach heftigen Protesten nicht mehr automatisch zur Pflicht wird, bleibt es noch immer Aufgabe der Fachplaner, (in Umkehrung der Beweislast) eine vermeintliche Notwendigkeit durch Risikoanalysen zu widerlegen. Zwar kann die Anordnung in Gebäuden mit besonderen Gefahren (z. B. im Bereich des Denkmalschutzes oder bei erheblichen Brandlasten) durchaus sinnvoll sein, jedoch stellt sich die Frage, ob eine pauschale Forderung zur Anordnung von „Brandschutzschaltern“ sinnvoll und angemessen ist.
Frage 2: Wird die pauschale Notwendigkeit des Einbaus von „Brandschutzschalters“ gemäß DIN VDE 100-420 anerkannt?
3. DIN 18015 „Elektrische Anlagen in Wohngebäuden“
Steigende Standards in der DIN 18015 Teil 1-5 „Elektroausstattung“ tragen maßgeblich dazu bei, dass die Kosten für die Elektrifizierung einer Durchschnittswohnung von etwa 7.000 € im Jahr 2010 auf nunmehr 13.000 bis 15.000 € gestiegen sind – eine Steigerung um mehr als 100 Prozent. Belege für die Notwendigkeit dieser Verschärfungen bei Standards wie Ausstattung, FI-Schalter, Brandschutzschalter, Revisionsöffnungen für Leerrohre usw. liegen nicht vor.
Frage 3: Werden die verschärften Standards der DIN 18015 anerkannt?
4. DIN 14092 2024-06 „Feuerwehrhäuser“
Die Novellierung der DIN 14092 macht aus jedem kleinen Feuerwehrhäuschen auf dem platten Land einen „Bestandteil kritischer Infrastruktur“, mit Anforderungen z. B. nach BMA und Notstromversorgung, die erhebliche Mehrkosten erzeugen.
Frage 4: Werden die gestiegenen Anforderungen der DIN 14092-2024/06 anerkannt?
5. Exkurs Arbeitsstättenrecht: Türaufschlag
Auch im Arbeitsstättenrecht finden sich nicht nachvollziehbare Forderungen, so z. B. pauschal geforderte Türaufschläge von Notausgangstüren in Fluchtrichtung (ASR-A-2.3, Kapitel 7 Abs. 6) ohne Nachweis einer Notwendigkeit, zumal dieser behauptete „Standard“ im Widerspruch zur Musterbauordnung (MBO) und zu sämtlichen Landesbauordnungen (LBO) steht. Es wird dabei noch nicht einmal zwischen dem Risiko eines Atomkraftwerks und der denkbar sichersten Büro- und Verwaltungsnutzung unterschieden. Von Behördenseite wird sogar regelmäßig die Meinung vertreten, dass Risikobewertungen nach § 3 ArbSchG sogar unzulässig seien, weshalb von den daraus hergeleiteten Nutzungsuntersagungen mit sofortigem Vollzug mittlerweile eine größere Gefahr ausgeht als von einem möglichen Brandereignis selbst.
Frage 5: Wird der pauschale Türaufschlag von Notausgangstüren in Fluchtrichtung gem. ASR-A 2.3 anerkannt?
6. DIN 14094-2 „Rettungswege auf Dächern“
Die DIN 14094-2 definiert konstruktive Anforderungen an Rettungswege auf flachen und geneigten Dächern. Wo früher einige Trittstufen in Verbindung mit einer Haltestange als Absturzsicherung genügten, sind inzwischen gemäß DIN 14094-2 große Stahlpodeste mit umfangreichen Geländerkonstruktionen als Absturzsicherung notwendig. Die in dieser Norm genannten baulichen Anforderungen lassen aus einer anleiterbaren Stelle im Zuge eines zweiten Rettungswegs ein balkongroßes Stahlgebilde werden – und dies unabhängig von der vorliegenden Gebäudenutzung und der Höhe der Anleiterstelle.
Frage 6: Werden die Anforderungen an Rettungswege gemäß DIN 14094-2 anerkannt?
7. Bemessung der erforderlichen Feuerlöscher nach der Technischen Regel für Arbeitsstätten ASR A2.2
Wird für ein Gebäude die Anordnung von Feuerlöschern erforderlich, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Zahl der vorzuhaltenden Feuerlöscher. In diesem Zuge wird regelmäßig auf die Bemessungsregeln der ASR A2.2 zurückgegriffen. Bei der praktischen Anwendung fällt jedoch auf, dass danach eine enorme Zahl an Feuerlöschern vorzuhalten ist. Das überschreitet in vielen Fällen die Grenze der Sinnhaftigkeit deutlich.
Frage 7: Wird die in der ASR 2.2 geforderte Zahl an Feuerlöschern anerkannt?
8. Bemessung der Löschwasserversorgung nach dem Arbeitsblatt W405 des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e. V.
Die Landesbauordnungen und die Feuerwehrgesetze der Länder fordern die Bereitstellung einer ausreichenden Löschwasserversorgung. Konkrete Bemessungsregeln für die Zahl der Hydranten, ihre Abstände und die notwendige Löschwassermenge enthalten diese Vorschriften jedoch nicht. Da keine anderen entsprechenden technischen Regeln existieren, wird hilfsweise regelmäßig auf das Arbeitsblatt W405 des DVGW e. V. „Bereitstellung von Löschwasser durch die öffentliche Trinkwasserversorgung“ zurückgegriffen. Dieses Regelwerk erweist sich jedoch in vielen Fällen als wenig praktikabel, da es fragwürdige Bemessungswerte in Abhängigkeit von der baulichen Nutzung und der Gefahr der Brandausbreitung enthält. Diese sind in vielerlei Hinsichtlich als veraltet und nicht praxisgerecht anzusehen.
Frage 8: Werden die Löschwassermengen nach dem DVGW Arbeitsblatt W405 anerkannt?
9. Anleiterhöhe größer 18 m nach der MRFlFw
In zahlreichen Bundesländern sind die „Muster-Richtlinien über Flächen für die Feuerwehr“ als bauaufsichtlich eingeführte technische Baubestimmung verbindlich zu beachten. Daraus ergibt sich bei Anleiterhöhen von mehr als 18 m eine auf lediglich 6 m reduzierte zulässige Ausladung für das Hubrettungsfahrzeug.
In der Praxis führt diese Vorgabe regelmäßig zu Problemen. Es ist festzustellen, dass eine reduzierte Ausladung nicht aus physikalischen Gesetzmäßigkeiten hergeleitet und auch nicht mit technischen Vorgaben moderner Drehleiterfahrzeuge begründet werden kann. Diese Vorgabe stammt noch aus den Bestimmungen der 60er- und 70er-Jahre, als bei zahlreichen Feuerwehren noch Hubrettungsfahrzeuge vom Typ DL 18 (ohne Korb) vorgehalten wurden. Bei diesem Drehleitertyp waren Anleiterhöhen von mehr als 18 m nur bei einer reduzierten Ausladung zu realisieren [2].
Offensichtich wurde es bisher schlichtweg versäumt, diese Vorgabe in der Richtlinie ersatzlos zu streichen. Dies hat in der Praxis jedoch fatale Auswirkungen bei der Planung der Flächen für die Feuerwehr.
Frage 9: Wird die Beschränkung der zulässigen Ausladung auf 6 m bei Anleiterhöhen von mehr als 18 m gemäß MRFlFW anerkannt?
10. Zusätzliche Deckenmelder bei rauchmeldergesteuerten Festellanlagen
Rauchmeldergesteuerte Feststellanlagen gewährleisten, dass Feuerschutzabschlüsse im Brandfall zuverlässig geschlossen werden. Die Anwendbarkeit einer rauchmeldergesteuerten Feststellanlage muss durch eine Bauartgenehmigung nachgewiesen werden. Diesbezüglich ergibt sich die Anforderung, dass bei einer Höhendifferenz von mehr als einem Meter zwischen Decke und Türsturz zusätzlich zum automatischen Brandmelder im Sturzbereich weitere Brandmelder im Deckenbereich anzuordnen sind.
Insbesondere bei großen Raumhöhen stellt sich die Frage, warum ein Feuerschutzabschluss in Bodennähe bereits automatisch aktiviert werden muss, wenn sich Rauch unterhalb der Decke oder des Dachs ansammelt? Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit zum Verschluss der Öffnung erst zum Zeitpunkt einer Rauchausbreitung im dortigen Bereich. Zu diesem Zeitpunkt würde jedoch der Sturzmelder das Brandereignis zuverlässig detektieren und zum Verschluss der Öffnung führen.
In der Praxis ergeben sich aus der Vorgabe zur Anordnung zusätzlicher Deckenmelder nicht nur weitere Kosten für die zusätzlichen automatischen Brandmelder und deren Installation. Bei großen Raumhöhen resultiert daraus ein erheblicher Aufwand für die Überprüfung der Deckenmelder, da i. d. R. umfangreiche technische Hilfsmittel wie z. B. Hubsteiger erforderlich sind.
Frage 10: Wird die Vorgabe bei rauchmeldergesteuerten Feststellanlagen zur Anordnung zusätzlicher Deckenmelder bei großen Raumhöhen anerkannt?
Ausblick
Sie haben die Möglichkeit, sich an der Umfrage der Autoren zu beteiligen: Hier geht es zur Umfrage
Eine derartige Auswertung ist aus Sicht der Autoren ein wichtiger Schritt hin zu einem sachlichen Diskurs und ein wertvoller Baustein zur Erreichung der von der Bundesregierung vorgegebenen Wohn- und Klimaziele.
Für den Austausch Ihrer Erfahrungen steht Ihnen Herrn Ralf Abraham, Initiator und Leiter der „AG Normen“ des DIvB, unter der Mailadresse info@divb.org gerne zur Verfügung.
[1] Saarländisches OLG, Saarbrücken (4 U 11/14, juris vom 30.07.2020)
[2] „Aufstellflächen für Hubrettungsfahrzeuge“ in FeuerTrutz Magazin 5.2020, Matthias Dietrich