Im FeuerTrutz Magazin ist die sechsteilige Beitragsserie "Raus aus der Komfortzone" von Prof. Dr. Gerd Geburtig erschienen. Über seine wichtigsten Thesen und die Reaktionen auf seine Impulse sprachen wir mit dem Autor.
Die sechsteilige Beitragsserie "Raus aus der Komfortzone" von Prof. Dr. Gerd Geburtig ist zu verschiedenen Themen in folgenden Ausgaben des FeuerTrutz Magazins erschienen.
- Erneuerung des vorbeugenden Brandschutzes (Ausgabe 1.2022)
- Überprüfung materieller Anforderungen der MBO (Ausgabe 2.2022)
- Brandschutz in der Bauordnung oder nach Richtlinie? (Ausgabe 3.2022)
- Angemessene Anforderungen an Schulen (Ausgabe 4.2022)
- An- und Verwendbarkeitsnachweise auf dem Prüfstand (Ausgabe 5.2022)
- Für ein "Bündnis bezahlbarer Brandschutz" (Ausgabe 6.2022)
Die Beitragsreihe widmet sich der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderung mit einem ganzheitlichen Blick auf die derzeitige Situation des vorbeugenden Brandschutzes.
Professor Geburtig, warum muss der vorbeugende Brandschutz überhaupt aus seiner Komfortzone heraus? Ist er nicht ein über Jahrzehnte gut austariertes System?
Nach einem Zeitraum von etwas mehr als 100 Jahren, innerhalb dessen sich die Bauordnung mit ihren Brandschutzvorschriften für Standardgebäude durchaus bewährt hat, sind drei wesentliche Entwicklungen zu beobachten, die mich dazu inspiriert haben, dieses Hinterfragen anzustellen:
Das – wie Sie es nennen – "gut austarierte System" ist in die Jahre gekommen und erfasst an vielen Stellen die technische Weiterentwicklung nicht mehr ausreichend.
Das führt zu unnötigen Dispensen und damit leider auch vielfältigen Verzögerungen. Der Sonderfall wird immer häufiger zum Standard, sodass oft von dem austarierten, aber veralteten System abgewichen werden muss, zudem häufig oft nur aus formalen Gründen.
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass dieses bewährte System des Brandschutzes zwei geschulte Seiten braucht, die miteinander auf Augenhöhe kommunizieren. Mittlerweile ist uns aber auf der einen, der behördlichen Seite, in vielen Bereichen der technische Sachverstand zunehmend abhandengekommen und dem formalen Denken gewichen. Auf der anderen Seite spielt der Brandschutz innerhalb der Architektur- und Bauingenieurausbildung beinahe keine Rolle mehr. Außerdem haben wir Brandschutzplaner nun schon seit vielen Jahren einen gut gefüllten Werkzeugkasten für die ingenieurmäßige Arbeitsweise beim Brandschutz, mit der die notwendigen Nachweise auf individuellem Weg ohne Standardabgleich gelingen. Aber die hauptsächliche Motivation für meine Überlegungen war es herauszufinden, welche ökologischen Ressourcen durch das Hinterfragen unseres gegenwärtigen Standes zu erschließen sind.

Das Bauwesen gehört zu den Wirtschaftssektoren mit dem größten Ressourcenverbrauch. Welche Möglichkeiten zur Ressourcenschonung im vorbeugenden Brandschutz wären am schnellsten umzusetzen?
Genau deswegen müssen wir alle Bereiche des Bauwesens auf den Prüfstand stellen, auch den Brandschutz. Wenn sich alle Sektoren gleichermaßen auf ihre Ausgangspositionen zurückziehen, kommen wir keinen Schritt vorwärts. Aus meiner Sicht könnten drei Schritte auch sehr zügig umgesetzt werden: Die Anforderungen an die notwendige Feuerwiderstandsfähigkeit bei den Gebäudeklassen 4 und 5 können reduziert, die baulichen Mindestanforderungen an Schulen verringert und die Brandschutzanforderungen aus der Musterbauordnung in eine technische Baubestimmung für Standardgebäude transferiert werden.
Brandschutz ist ja nur ein Teilbereich des gesamten Bauwesens. Kann er da überhaupt einen relevanten Unterschied machen, selbst wenn er in Ihrem Sinne flexibler würde?
Einer muss ja anfangen! Wir können doch nicht immer so weitermachen wie bisher: Da wird hier mal ein Komma und dort ein Sätzchen in der MBO geändert, was wir dann gesellschaftlich als Fortschritt verkaufen. Deswegen habe ich auch gefordert: "Raus aus der Komfortzone!" Das bedeutet aus unserer Komfortzone der Brandschutzplaner und Brandschutzplanerinnen. Wir können und sollten deswegen als unbestritten besonderer sicherheitsrelevanter Bereich des Bauwesens mit gutem Beispiel vorangehen und damit den anderen Sektoren zeigen, dass und wie es möglich ist. Daraus kann eine ökologische Bewegung werden, ganz ohne Ideologie und im Miteinander aller Bereiche. Das „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ der Bundesregierung kann und wird ansonsten meiner Meinung nach nicht gelingen.
Dürfen wir in Zukunft gar nicht mehr neu bauen, sondern nur noch Bestandsgebäude sanieren, um Ressourcen zu schonen?
Eine derartige Auffassung halte ich für zu extrem, aber wir müssen viel überlegter an Neubauplanungen herangehen. Bevor man sich für einen Neubau entscheidet, sollte die Überlegung angestellt werden, ob eine Weiternutzung des Bestands nicht möglich ist, denn diesem ist grundsätzlich Vorrang zu geben. Das erfordert aber oftmals mehr Denkleistungen, weil das Um- und Weiternutzen bestehender Gebäude einfach komplexer und nicht selten auch unbequemer ist, da man Bestehendes akzeptieren und verarbeiten muss. Je mehr erhalten werden kann, desto größer ist der ökologische Effekt. Dazu kommt erschwerend, dass wir uns in Deutschland immer noch mit der vernünftigen Honorierung von Denkleistungen sehr schwertun. Der Billigste gewinnt zu oft den Wettbewerb, getarnt als Wirtschaftlichster.
In dieser Hinsicht muss auch dringend die Architekturausbildung weiter geschärft werden, denn da stehen in Deutschland nach meiner Beobachtung bisher leider weiterhin beinahe alle Zeichen auf „Neubau“. Und als „gelernter“ Architekt muss ich unbedingt dazu auffordern, das gegenwärtige Wettbewerbssystem bei Architekturwettbewerben zu überdenken: Leider werden bei diesen immer noch viel zu viele „Luftschlösser“ prämiert statt angemessener Lösungen, die im Ansatz aber bescheidener auftreten. „Less is more“, dieser Leitsatz von Mies van der Rohe muss mehr denn je die Devise beim Bauen – und auch beim Brandschutz – werden.
Inwieweit müsste das derzeitige Bauproduktenrecht angepasst werden, um besonders bei der notwendigen Bestandssanierung auch einsetzbare Bauprodukte zur Verfügung zu haben?
Wir brauchen dringend weniger komplizierte Lösungen, praktikable Standards für den Einbau von Bauprodukten und funktionierende Regularien für das Abklären von Randbedingungen im Bestand. Auch in diesem Bereich kann es kein einfaches „Weiter so!“ geben, sonst gelingt der Einbau von Bauprodukten nur noch auf abweichendem Weg. Ein Lösungsansatz dazu wird gegenwärtig mit den Merkblättern des Referats „Brandschutz“ in der WTA e. V. (Wissenschaftlich-Technische Arbeitsgemeinschaft für Bauwerkserhaltung und Denkmalpflege e. V.) erarbeitet. Es würde mich freuen, wenn das DIBt da flexibler würde und diesen Ball aufnähme.
Besteht beim Brandschutz ggf. auch in Sachen Bauarten Potenzial, materielle Anforderungen im vorbeugenden Brandschutz zu senken?
Durchaus. Der Zusammenhang bei den Bauprodukten gilt selbstverständlich auch für die Bauarten, bei denen zudem mehr nationale Spielräume vorhanden sind. In diesem Punkt bringe ich gern Prüfregularien für Überprüfzeiten in die Diskussion, mit denen die logischerweise nicht immer exakt gleichen Randbedingungen, die bei bestehenden Gebäuden auftreten, sicherheitstechnisch aufzufangen sind.
Beispielsweise könnte man verlangen, dass für eine feuerhemmende Bauart ggf. 35 min bis zum Versagen nachgewiesen werden müssen, um in der Praxis immer wieder auftretende Unregelmäßigkeiten zu berücksichtigen. Die Hersteller sind in dieser Hinsicht bestimmt gesprächsbereit, denn sie bräuchten dann nicht jeden Tag eine Unmenge nicht wesentlicher Abweichungen zu attestieren. Das Ganze wäre zudem möglich, ohne dass man damit am bisherigen hohen Sicherheitsniveau rütteln würde – ganz nebenbei müssten weniger Bestandsbauteile aufgegeben werden, nur um eine nachweisgerechte Einbausituation zu erlangen.
Welches Potenzial bergen die Ingenieurmethoden im Brandschutz? Ist es sinnvoll, diese häufiger einzusetzen, um im Einzelfall effizientere Lösungen zu finden?
Auf jeden Fall! Dabei muss man jedoch zwischen dem Weg der ingenieurmäßig-argumentativen Nachweisführung und der leistungsbezogenen unterscheiden. In einer Vielzahl der Fälle wird die argumentative Nachweisführung weiterhin genügen und die leistungsbezogene insbesondere den neuartigen Sonderbauten vorbehalten bleiben. Insofern liegt das größte Potenzial der Brandschutz-Ingenieurmethoden darin, über deskriptive Wege zur Schutzzielerreichung nachzudenken gegenüber dem puren Befolgen von Vorschriften und damit der bisher überwiegenden präskriptiven Handlungsweise.
Wo sehen Sie Konfliktfelder – beispielsweise wird immer wieder das Argument genannt, dass es nur wegen der hohen Anforderungen an den Brandschutz auch wenig Brandtote in Deutschland gibt. Kann dies so pauschalisiert werden?
Das ist ja dem Grunde nach auch nicht falsch, aber die Pauschalierung schon. Das Ganze ist differenzierter zu beurteilen: Die Bauordnung mit der Möglichkeit des Dispenses hat sich grundsätzlich bewährt und war das Mittel ihrer Zeit. Aber jetzt können wir das verändern, weil wir in den vergangenen Jahren viel dazugelernt haben. Es geht auch nicht darum, keinen Brandschutz mehr zu betreiben, sondern mehr einen angemessenen ressourcenschonenden Brandschutz. Zudem sollte die Bestandsweiternutzung besser ermöglicht werden, indem wir das denkbare Brandereignis für die jeweilige Nutzung mit der jeweiligen konkreten Risikobewertung verknüpfen, insbesondere bei Sonderbauten.
Wie viel Unterstützung, neue Wege (mit)zugehen, erfahren Sie vonseiten der Behörden und von Prüfern von Brandschutzkonzepten?
Das hängt in der Tat sehr von den konkret handelnden Menschen ab. Die Spanne reicht von Begeisterung bis hin zum formalen Abblocken, vermutlich aus Prinzip. Es „menschelt“ natürlich auch in dieser Hinsicht überall. Deswegen hängt die jeweilige Entscheidung aber auch glücklicherweise von Menschen und noch nicht von einer „künstlichen Intelligenz“ ab.
Was verhindert einen schnelleren Wandel des vorbeugenden Brandschutzes hin zu mehr Ressourcenschonung?
Leider die immer noch zu große Angst vor einer grundlegenden Veränderung und der ausschließliche Glaube an das von Ihnen anfänglich zitierte "gut austarierte System". Mir gegenüber hat einmal ein Mitarbeiter einer obersten Bauaufsicht diesbezüglich etwas resignierend geäußert, dass ein Systemwechsel von offensichtlich niemandem in Deutschland gewünscht sei. Das habe ich – als damals angehender Prüfingenieur für Brandschutz – nicht so ernst genommen, muss es mittlerweile aber leider bestätigen. Wir müssen die brandschutztechnische Planungspraxis endlich mehr zu einer schöpferischen Planung, also zu einem "Hier darfst du!", hinwenden. Dies forderte der Schweizer Architekten-Schriftsteller Max Frisch schon 1953 und meinte dazu, dass diese Planung nicht mit einem Polizisten, sondern einem Pionier personifiziert sein sollte.
Welche Reaktionen haben Sie auf Ihre Artikelserie erreicht?
Etwas weniger als erwartet, und wenn, dann ausnahmslos bestätigend. Kritik soll mitunter in den sog. Direktmedien geäußert worden sein, aber ich verfolge weder Twitter noch andere solche verknappenden Medien, vor allem wenn es um sachliche Themen geht. Den Brandschutz kann man schlichtweg nicht auf 290 Zeichen reduzieren.
Vielleicht noch abschließend die Frage: Wie können sich die an der Brandschutzplanung Beteiligten wirkungsvoll einbringen?
Durch zielstrebiges Denken und Argumentieren. Wie ich es bereits vorhin angedeutet habe, sehe ich die Zukunft des Brandschutzes weder im Befolgen von Vorschriften noch im ausschließlichen ingenieurmäßigen "Rechnen". Es muss die konkrete Schutzzielbetrachtung angestellt und eine schlüssige Beurteilung der Wechselwirkungen verfolgt werden, dann gelangt man fast zwangsläufig zur richtigen Brandschutzlösung für den jeweiligen Entwurf. Schließlich muss man als Planender auch immer hinter seiner Lösung stehen und kann sich nicht hinter einer vorschreibenden oder prüfenden Stelle verstecken.