Luftaufnahme der Londonder Skyline
Abb. 1: Der Blick geht immer höher in London: „The Gherkin“ (30 St Mary Axe), der Wolkenkratzer ist mit 180 m im Londoner Finanzdistrikt zu finden (links im Bild) und bei Weitem nicht das höchste Gebäude im Vereinigten Königreich. (Quelle: Alev Takil auf Unsplash)

Planung | Ausführung 15. August 2023 "Wir sehen die Spitze des Eisbergs der Veränderungen"

Im Gespräch mit Boris Stock (BFT Cognos) und Karl Wallasch (Trigon Fire Safety)

Derzeit werden die Brandschutzregeln für (Wohn-)Hochhäuser in Deutschland und England grundlegend hinterfragt. Wir haben mit Boris Stock aus Köln (BFT Cognos) und Karl Wallasch (Trigon Fire Safety) aus London darüber gesprochen, ob und wie die beiden Länder voneinander lernen können.

Herr Wallasch, Herr Stock, was sind die hauptsächlichen Unterschiede des deutschen und englischen Baurechts?

Wallasch: In England und auch Wales richtet sich das Baurecht nach den sog. „functional requirements“. Diese geben eine grobe Richtung vor, wie Schutzziele adäquat erreicht werden sollen. Um ein Beispiel zu nennen: Es heißt dann, ein Fluchtwegkonzept soll „adäquat“ adressiert werden. Das hilft einem Planer erstmal nicht weiter, denn er hat Zahlen im Kopf: Wie lang sind meine Fluchtwege, wie viel Personen bekomme ich da rein? Um bei diesen „functional requirements“ zu unterstützen, gibt  der Gesetzgeber daher Richtlinien vor, die man anwenden kann, aber nicht muss. Wenn man sie verwendet, erreicht man jedoch automatisch die „functional requirements“.

Das Wichtigste ist: Man kann stattdessen auch Ingenieurmethoden anwenden. Mir ist schon sehr früh aufgefallen, als ich in England und Wales gearbeitet habe, dass in diesem System die Richtlinien und der Stand der Ingenieurmethoden einander gleichgestellt sind. Und anders als in Deutschland hat man bei der Anwendung von Ingenieurmethoden nicht das Gefühl, etwas „Unanständiges“ zu tun.

Stock: Das ist tatsächlich einer der ganz großen Unterschiede zwischen England und Wales auf der einen Seite und Deutschland auf der anderen Seite, diese Gleichwertigkeit. Wir haben hierzulande zwar die Möglichkeit, alternative Nachweise zu führen, aber vielleicht mit Ausnahme der Heißbemessungen ist die Anwendung der Ingenieurmethoden im Brandschutz immer noch eher ein Sonderweg.

Nach der Grenfell-Brandkatastrophe 2017 wurden in England mehrere brandschutztechnische Richtlinien und Regelwerke erneuert. Anfang 2020 führte man die Forderung nach flächendeckender Sprinklerung von Wohnungsbauten mit einer Höhe von mehr als 11 m ein. Wie beurteilen Sie beide das aus Ihrer jeweiligen Perspektive?

Wallasch: Ich würde sagen, dass man in England und Wales über viele Jahre eigentlich das Baurecht und die Richtlinien nicht grundsätzlich verändert hat. Man dachte, das Regelwerk, das man hat, ist ausreichend. Nun hat sich aber herausgestellt, dass man immer höher baut. Um dazu ein paar Zahlen zu nennen: 2006 haben wir an einem Projekt gearbeitet, das damals mit 120 m das höchste Wohnungshochhaus in Europa war. Zehn Jahre später arbeiteten  wir schon an einem Wohnungshochhaus mit 240 m. Das war dann nicht mehr das höchste Haus in Europa und auch schon länger nicht mehr im UK. Sie sehen, dass allein diese zehn Jahre einen großen Anstieg in den Höhen von Hochhäusern gebracht haben. Im gleichen Zeitraum wurden aber die Richtlinien nicht so stark verändert.

Und dann passierte 2017 die Grenfell-Katastrophe. Als ich die Bilder sah, war mir sofort klar: Das wird nicht nur den Brandschutz, sondern auch die Industrie grundlegend verändern. So kam es dann auch. Fast jede Woche erscheint eine neue Richtlinie oder das Baurecht wird verändert. Es gibt eine neue Baubehörde, die speziell Wohnungshochhäuser prüfen soll. Das ist also eine andere Herangehensweise bei Planung, Bau, Ausführung, Übergabe und Betrieb. Man legte z. B. fest, dass Wohnungshochhäuser über 18 m Höhe alle fünf Jahre erneut begutachtet werden müssen – das ist komplett neu für uns.

Eine andere Sache ist beispielsweise die Sprinklerung von Wohnungshochhäusern. Bis 2006 gab es gar keine Vorgaben dazu. Ab 2006 wurde festgelegt, dass Wohnungshochhäuser über 30 m Sprinkler brauchen. Und ab 2020 wurde eingeführt, dass alles über 11 m mit Sprinkleranlagen versehen werden muss. Die Höhe wurde also immer weiter heruntergeschraubt.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir jetzt – sechs Jahre nach Grenfell – immer noch nur die Spitze des Eisbergs der Veränderungen sehen. Man geht davon aus, dass dies die größten Veränderungen seit 60 bis 70 Jahren hier im UK sind.

Sind diese vielen Veränderungen positiv zu bewerten, oder sind sie vielleicht an der einen oder anderen Stelle übertrieben?

Wallasch: Meiner Meinung nach beides. Wir haben mit Sicherheit den Trend, immer schneller und kostengünstiger zu bauen – das ist natürlich schwierig. Vielleicht muss man wieder anfangen, richtig zu planen, zu bauen und sich die Zeit zu nehmen, den Nutzern ein Brandschutzkonzept zu erklären und es auch immer wieder zu begutachten. An den neuen Regelungen ist also vieles richtig. Man sieht jedoch ebenso, dass viele Entscheidungen im Moment eher politisch ausgerichtet sind, um Meinungen, die in der Öffentlichkeit existieren, zu entsprechen. Nicht alles, was eingeführt wird, beruht auf Forschung, technischem Wissen oder Prinzipien.

Welche Motivation liegt diesem politisch Diskurs Ihrer Meinung nach zugrunde?

Wallasch: Grenfell war eine der größten Brandkatastrophen, die wir je hatten. Die Zahl der Toten war nicht akzeptabel für eine Gesellschaft. Mindestens einmal die Woche wird im Fernsehen immer noch darüber berichtet. Seit Jahren findet eine inquiry (Anm. d. Redaktion: eine gerichtliche Untersuchung) statt, die die genauen Umstände untersuchen soll, die zum Brand geführt haben. Diese Fragen sind noch nicht gelöst und beschäftigen die Gesellschaft weiterhin.

Stock: Was man bei Grenfell aber nicht aus den Augen verlieren darf: In Deutschland wurde das Ganze meist als reine Brandkatastrophe wahrgenommen. In England ist die Sichtweise noch etwas anders; der Grenfell Tower war ein Sozialbau. Die Frage, die da im Hintergrund steht, geht über den reinen Brandschutz hinaus. Sie umfasst die Diskussion, ob sozial schwächere Schichten weniger Anrecht auf sicheres Wohnen und ein sicheres Leben haben als ein Millionär, der im Penthouse wohnt. Tatsächlich hat es im Vorfeld auch Anfragen durch Bewohner gegeben, denen nicht nachgegangen wurde. Das heißt, die Politiker sind nun in der Verantwortung sicherzustellen, dass dieses Thema aufgeklärt wird und nicht der Eindruck aufkommt, dass Leute in Sozialwohnungen unsicherer wohnen als andere. Ich glaube, das ist im UK ein großes gesellschaftliches Thema, was auch teilweise dazu beiträgt, dass dem so konsequent nachgegangen wird.

Der in Planen gehüllte Grenfell Tower 2018 mit dem von Grenfell United entworfenen Schriftzug „Grenfell forever in our hearts“.
Abb. 2: Der in Planen gehüllte Grenfell Tower 2018 mit dem von Grenfell United entworfenen Schriftzug „Grenfell forever in our hearts“. (Quelle: the blowup auf Unsplash)

Wie geht man im Allgemeinen mit dem Thema Sicherheit in Bestandshochhäusern im UK nach der Grenfell-Katastrophe um? Wird da gesondert geprüft, werden Vorschriften angepasst?

Wallasch: Dazu gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Man geht davon aus, dass man ungefähr 12.500 Wohnungshochhäuser mit einer Höhe von über 18 m hat, die in den letzten 20 bis 40 Jahren gebaut wurden. Diese Gebäude haben mitunter keine Sprinklerung und zum Teil auch kein detailliertes Brandschutzkonzept. Das Prüfverfahren war damals zwar ein anderes, aber die Gebäude sind in Benutzung und können somit nicht aus Brandschutzgründen komplett umgebaut werden.
Was jedoch betrachtet werden muss, ist das Risiko dieser Gebäude. Dabei geht es nicht darum, ob man mit dem aktuellen Brandschutzregularien übereinstimmt, sondern es muss eine Risikobetrachtung durchgeführt werden, bei der Brandschutz nur ein Teilbereich ist. Dabei geht es z. B. auch um Standsicherheit, Lüftung und Elektrik. Es geht also über den Brandschutz hinaus. Und Bestandsbauten rücken somit auch wegen Grenfell generell mehr in den Fokus.

Herr Stock, welche Konsequenzen hatte Grenfell für uns in Deutschland, was die Betrachtungsweise von Hochhäusern im Neubau oder Bestand betrifft?

Stock: Grenfell hatte konkrete Maßnahmen zur Folge. So wurden z. B. unmittelbar danach Bestandshochhäuser hinterfragt, und jeder Bauherr, jeder Betreiber musste per Gutachten eines Sachverständigen nachweisen, dass keine brennbare Dämmung verwendet wurde (Anm. d. Redaktion: Der Grenfell Tower hatte eine vorgehängte hinterlüftete Fassade aus Aluminium-Verbundplatten mit einer dahinterliegenden Dämmung aus beidseitig mit Aluminiumfolie kaschierten Hartschaumplatten aus Polyisocyanuraten). Tatsächlich weiß ich sogar von einem Hochhaus, das deshalb aus der Nutzung genommen wurde.

Ich glaube, man kann die Situation jedoch nicht 1:1 vergleichen, denn in England und Wales herrscht letztlich wegen der Anwendung der Ingenieurmethoden eine große Flexibilität in der Planung. Wir haben auf der anderen Seite ein gesetztes Sicherheitssystem mit Vorgaben, die als solche im Bereich der Hochhäuser seit 15 Jahren ein sehr hohes Sicherheitsniveau gewährleisten. Ich bin mir persönlich auch nicht sicher, ob ich das für den richtigen Weg halte, unmittelbar im Nachgang zu einem schrecklichen Schadensereignis Änderungen durchzuführen.

Ich finde, dass solche Ereignisse erst einmal technisch genau aufgearbeitet werden müssen, um die genauen Umstände zu ergründen. Denn dieser Blumenstrauß an Maßnahmen, der in England und Wales umgesetzt wird, lässt sich aus unserer Sicht schnell reduzieren auf „wir ändern das Planungsrecht“. Es kann aber sein, dass das Planungsrecht vollkommen in Ordnung ist, jedoch z. B. Produkte, Bauarten und Baustoffe nicht im Fokus lagen bzw. nicht die nötigen Eigenschaften aufwiesen oder dass diese beiden Aspekte in Ordnung waren, aber die Ausführung auf der Baustelle samt begleitender Qualitätskontrolle und Abnahme nicht entsprechend korrekt umgesetzt wurde. Glücklicherweise sind wir in Deutschland nicht in der Situation, ein solches Schadensereignis aufarbeiten zu müssen. Wäre es aber so, würde ich raten, genau hinzuschauen.

Wallasch: Ich finde es beeindruckend, dass Deutschland mit der Musterhochhausrichtlinie ein hilfreiches Tool entwickelt hat, mit dem Hochhäuser gut bemessen und bewertet werden können. Bei uns ist es so, wie anfangs beschrieben, dass man Richtlinien und Ingenieurmethoden verwendet. Jedoch hat es sich ab ca. 50 m Höhe etabliert, dass man erst einmal die Richtlinien beiseitelegen muss und der Gesetzgeber sagt, dies ist ein so besonderes Gebäude, ein Sonderbau, dass keine allgemeingültigen Richtlinien vorgegeben werden können. Es muss dann nachgewiesen werden, ob die Richtlinie überhaupt anwendbar ist und die Risiken in diesem speziellen Hochhaus abbildet oder ob das Risiko so besonders ist, dass komplett auf Ingenieurmethoden gesetzt werden muss. Ich selbst bin mir noch nicht komplett sicher, welches der bessere Weg ist: eine vorgegebene Richtlinie oder Ingenieurmethoden.

Außerdem ist es wichtig, aktuelle Trends zu betrachten, denn immer öfter sprechen wir bei Hochhäusern gar nicht mehr von einer reinen Wohnungsnutzung, sondern von einer Mischnutzung. Das macht es nicht einfacher und wirft die Frage auf, ob dies mit Richtlinien erfasst werden kann.

Wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt: Glauben Sie, dass das deutsche starre Regelwerk die Entwicklung alternativer Bauweisen wie z. B. Holzbau hemmt?

Stock: Ich hadere etwas mit der Begrifflichkeit „starr“. Letztlich haben wir ein gesetztes Regelwerk, das zwar einige Sachen so nicht vorsieht, aber dafür Planungssicherheit und ein sehr hohes Sicherheitsniveau bietet. Trotzdem sind natürlich Ausnahmen möglich, und diese wollen wohl geprüft und wohl begründet sein. Vielleicht ist der Vergleich nicht zu 100 Prozent möglich. Wenn man diese Leuchtturmprojekte z. B. aus London sieht, wirken deutsche Projekte vielleicht ein wenig bieder, aber das liegt letztlich auch ein Stück weit am Markt. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Verstecken müssen wir uns in Deutschland auf jeden Fall nicht.

Wohin geht die normative Reise im UK im Hinblick auf den vorbeugenden Brandschutz?

Wallasch: Ich glaube, wir werden weiterhin hoch bauen. Vielleicht nicht so hoch wie in Asien, aber sicherlich werden wir in die Nähe von 300 m kommen. Es wird viel Mischnutzungen geben: Eine reine Büro- oder Wohnungsnutzung wird selten werden. Zudem glaube ich, dass die Notwendigkeit von Ingenieurmethoden zunehmen wird. Auch wird der Gesetzgeber fordern, dass Brandschützer früher hinzugerufen werden und konsequent in alle Planungs- und Bauphasen sowie in den Betrieb involviert sind. Trends wie Fotovoltaikanlagen, begrünte Fassaden und Holzbau sowie nachhaltiges Bauen werden kommen. Darüber hinaus werden wir weiterhin mit Elektroautos sowie E-Bikes und E-Scootern zu tun haben, und Scooter haben auch schon Brände in U-Bahnen und Wohnungen verursacht – eventuell wird es da Verbote geben, solche Geräte in der Hochhauswohnung zu laden.

Ein weiterer großer Trend ist sicherlich die komplette Kommunikation rund um ein Brandschutzkonzept. Man geht davon aus, dass man den Nutzern am Ende einen digitalen Zwilling wird übergeben müssen, bei dem sie sich dann z. B. ganz genau anschauen können, was für Brandschutzklappen im 12. Obergeschoss verbaut worden sind, woher diese kommen oder welche Produktnummer sie haben.

Wie wird man ein „fire engineer“ im Vereinigten Königreich bzw. welche Qualifikationen sind nötig, um als Brandschutzplaner arbeiten zu dürfen?

Wallasch: Im UK kann sich eigentlich jeder fire engineer nennen, das ist kein geschützter Beruf. Als ich frisch von der Uni kam, war ich sofort ein fire engineer. Ich habe mich dann mal erkundigt, wie das in Deutschland aussieht, wer z. B. Brandschutzkonzepte für Sonderbauten schreiben darf. Denn für Sonderbauten gab es bei uns lange keine Beschränkungen, aber seit etwa zwei Jahren hat sich das geändert: Ich muss mittlerweile nachweisen, dass ich qualifiziert bin. Dazu gehören die richtige Erfahrung mit Wohnungshochhäusern, eine bestimmte akademische Ausbildung und eine Anerkennung der Ingenieurkammer, bei der man bewertet wird, um dann den Titel „Chartered Engineer“ zu erhalten. Dass man in Deutschland nicht einfach so zum Brandschutzplaner oder Brandschutzsachverständigen wird, hielt ich schon immer für einen Vorteil.

Leider haben wir aber nicht genug Fachpersonal: In England gibt es nur etwa 300 dieser „Chartered Engineers“. Wir sind schlecht im Recruiting und haben einfach zu wenige junge Brandschützer. Dies sehe ich als eines der größten Probleme in der Zukunft an.

Was können die beiden Länder im Hinblick auf den Brandschutz voneinander lernen?

Stock: Was ich gut finde, ist diese offene Herangehensweise im UK, man ist dort „open minded“: Man schaut sich Neues erst einmal ganz offen und unvoreingenommen an. Ich glaube, in der ganz konkreten Umsetzung – von der ersten Idee bis zur Schlussabnahme des Gebäudes – sind wir in Deutschland gut aufgestellt. Das zeigt auch die Vergangenheit. Wir haben relativ wenige Brandtote zu verzeichnen. Aber diese Einstellung, ganz offen neue Sachen anzugehen, das finde ich bewundernswert und würde es mir in Deutschland ein bisschen mehr wünschen.

Das Interview ist in Ausgabe 3.2023 des FeuerTrutz Magazins (Juni 2023) erschienen.

Das FeuerTrutz Magazin berichtete bereits zuvor über die Brandkatastrophe im Grenfell Tower sowie Brandschutz in Wohnungshochhäusern.

zuletzt editiert am 28.08.2023